Das deutsche Eisenbahnwesen der Gegenwart

Aktien-Gesellschaft für Fabrikation von Eisenbahn-Material
zu Görlitz

Die Aktien-Gesellschaft für Fabrikation von Eisenbahn-Material zu Görlitz liefert alle zum Bau und zur Ausrüstung von Eisenbahnfahrzeugen und anderen  Transportmitteln  erforderlichen Gegenstände nebst den dazu gehörigen Materialien, sowie Holz- und Metallkonstruktionen jeder Art.

Die Fabrik beschäftigte 2000 Beamte und Arbeiter bei einem Umsatze von 10 500 000 Mark.
Das Aktienkapital beträgt 2 142 600 Mark.
Der Gesamtbesitz an Fabrik-Grundstücken beläuft sich auf 25,168 ha.
Das Unternehmen entstand aus der Wagenbauanstalt des Herrn Joh. Chr. Lüders, die in Görlitz am Demianiplatz errichtet war. Im Jahre 1849 wurden die ersten 2 Holztransportwagen für die Stadt Görlitz gebaut.
Lüders erhielt später von Privat- Eisenbahnverwaltungen größere Aufträge in Eisenbahnwagen, so daß seine kleine Werkstätte nicht mehr ausreichte. Er erwarb deshalb im Jahre 1853 ein in der Brunnenstraße befindliches Grundstück auf dem Platze, der noch heute zum Werk gehört.
In den Jahren bis zu 1888 wurden nur einige Werkstätten gebaut.  Die umfangreichsten Vergrößerungen erfuhr das Werk in den Jahren. 1889 bis 1910. Es wurden nicht nur eine Reihe neuer Werkstätten errichtet, sondern auch verschiedene alte Werkstätten abgebrochen und durch neuzeitliche Gebäude ersetzt. Außerdem wurde der Grundbesitz des Werkes in diesen Jahren wesentlich vergrößert und ein zweckentsprechender Anschluß an die preußische Staatseisenbahn hergestellt.
 

Nach dem gegenwärtigen Stande besitzt die Gesellschaft zwei Fabrikgrundstücke, und zwar das alte Grundstück mit einem Flächeninhalt von 4,339 ha und die neuen Grundstücke mit einem flächeninhalt von 20,829 ha. Beide Grundstücke sind durch ein normalspuriges Gleis und durch elektrische Kraftübertragung verbunden.  Jedes  Grundstück hat eigene Wasserleitung.
Die Gesellschaft errichtete im Jahre 1871 eine eigene Betriebskrankenkasse. Sie gewährt Ihren Mitgliedern freie ärztliche Behandlung,. freie Arznei oder Kur- und Verpflegung, bei Erwerbsunfähigkeit Krankengeld, für den Todesfall Sterbegeld.
Die Gesellschaft hat seit dem Jahre 1883 eine Pensionskasse, die sowohl den Beamten wie den Arbeitern, die dienstunfähig geworden sind, die Anwartschaft auf Ruhegehalt gewährt. Außerdem besteht eine Reihe anderer Wohlfahrtseinrichtungen für die Beamten und Arbeiter.
Von den Erzeugnissen der Gesellschaft kommen in erster Linie in Betracht: Salon-, Speise- und Schlafwagen, sowie Personen-, Post- und Gepäckwagen aller Spurweiten, Luxus-Pferdewagen, Güterwagen aller Art und Spurweiten, sowie Spezialwagen zum Transport von Spiritus, Säuren, Petroleum, Milch, Butter, Fleisch und Fischen, ferner Rollböcke für Voll- und Schmalspur, sowie elektrische Trieb- und Straßenbahnwagen. Mit Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raum soll nachstehend nur die Beschreibung einiger einfacheren Wagen erfolgen, welche von der Gesellschaft als Sonder- Erzeugnisse hergestellt werden.
 

I.  Luxuspferdewagen.
Für die Beförderung von edlen Pferden genügen auf langen Strecken die gewöhnlichen bedeckten Güter- und Großviehwagen nicht. Es sind deshalb besondere Wagen für Luxuspferde erbaut worden, die mit Einrichtungen ausgestattet sind,. die ein bequemes und sicheres Verladen der Pferde ermöglichen, Verletzungen der Tiere verhüten und eine sorgfältige Pflege während des Transportes zulassen.
Der Görlitzer Luxuspferdewagen ist dreiachsig mit Lenkachsen und nach Art der bedeckten Güterwagen gebaut und ist zur möglichsten Abkürzung der Reisezeit mit allen Einrichtungen ausgerüstet, die zur Einstellung des Wagens in Schnellzüge von mehr als 80 km Fahrgeschwindigkeit in der Stunde, sowie zur Einstellung in den internationalen Verkehr von den Eisenbahnverwaltungen gefordert werden. Der Wagen besitzt hochgewölbtes Dach und Lüftungsbau. An den Stirnwänden sind zwei Pferderäume zur Aufnahme von 6 Pferden oder 4 Muttertieren mit Fohlen angeordnet. In der Mitte des Wagens befindet sich ein Raum für die Wärter, für Futtervorräte und Gerätschaften.

Die Pferderäume sind so angeordnet, daß die Tiere in der Längsrichtung des Wagens und mit den Köpfen nach dem Wärterraum stehen. Jeder Pferderaum wird gewöhnlich durch zwei drehbare und feststellbare Flankierwände in drei Stände geteilt. Ist für den Transport von Pferden mit Fohlen die Teilung eines Raumes in nur zwei Stände erforderlich, so kann eine Flankierwand in der Mitte des Raumes angebracht werden. Jeder Pferderaum besitzt an den Zwischenwänden drei aus verzinntem Eisenblech hergestellte, herausnehmbare. Krippen, die in mit Zinkblech beschlagenen Tischen angebracht sind. Über den Krippen sind in den Zwischenwänden vom Wärterraum aus zu öffnende Klappen vorgesehen, durch welche die Überwachung, Fütterung und Tränkung der Pferde erfolgen kann. Zum Ein- und Ausladen der Pferde sind in den Seitenwänden der Pferderäume große Ladeöffnungen vorhanden, welche im oberen Teil durch zweiflügelige Drehtüren und im unteren Teil durch wagerecht aufschlagende Klappen verschlossen werden, die gleichzeitig als bequeme Ladebrücken dienen. Gegen selbsttätiges Offnen sind Türen und Klappen durch Riegelverschluß gesichert.
Zur Vermeidung von Verletzungen der Pferde bei heftigen Stößen sind an den Stirnwänden, den Seitenwänden, den Flankierwänden und den Zwischenwänden über den Krippen abnehmbare Polster befestigt.
Der Wärterraum ist von außen durch verschließbare Drehtüren zugänglich und steht mit jedem Pferderaum durch eine Drehtür in Verbindung. Im Wärterraum ist ein bequemer Schlafstuhl untergebracht. Ferner befindet sich in demselben ein zusammenlegbarer Tisch und hochklappbare Sitzbänke. Die Räume unter den Futterkrippen sind zur Aufnahme von Geräten und Futter ausgebildet. Die Beleuchtung geschieht durch Öllampen. Bei den Lampen für die Pferderäume sind Lichtblenden vorgesehen.

II.  Biertransportwagen.
Biertransportwagen erfordern eine rasche Beförderung und Schutz gegen Temperaturschwankungen.
Es finden hierfür Wagen Verwendung, die mit isolierenden Umfassungswänden, Eiskühlung und Heizung ausgerüstet sind. Die Temperatur im Wagen soll dauernd 4 bis 10 Grad Celsius zeigen.
Der Görlitzer Bierwagen ist zweiachsig, mit Lenkachsen und als bedeckter Güterwagen gebaut. Es sind bei demselben alle Einrichtungen vorgesehen, welche zur Einstellung des Wagens in Personenzüge von den Eisenbahnverwaltungen gefordert werden. Der Wagen besitzt schlecht wärmeleitende, doppelt ausgeführte Wandungen. Wenn der Wagen auf längeren Strecken verkehren soll, werden die Wandungen auch dreifach hergestellt, oder deren Hohlräume durch schlechte Wärmeleiter wie Korksteine usw. ausgefüllt.
In jeder Seitenwand sind zur Verladung Drehtüren vorgesehen. Diese Türen sind wie die Seitenwände mit mehrfacher Verschalung und die Türfalze mit Filzbelag dicht schließend hergestellt. Die Türen sind mit Riegel- und Zollverschluß ausgestattet. An den Stirnwänden befinden sich hochliegende Eisbehälter zur Kühlung des Innenraumes im Sommer. Die Beschickung mit Eis erfolgt vom Wageninnern aus.
Für eine stetige Ableitung des Schmelzwassers sind Ablaufrohre vorgesehen. Für Transporte im Winter sind Heizeinrichtungen vorhanden, und zwar Dampfheizung oder Preßkohlenheizung. Auf dem Fußboden ist ein Sonderbelag aus Eichenholz, der bei Abnutzung durch die schweren Gebinde leicht ausgewechselt werden kann.

III.  Hohlglaswagen.
Das Ladegewicht von 15 000 kg der gewöhnlichen bedeckten Güterwagen kann nicht für sämtliche Güter voll ausgenützt werden, da der Laderaum nicht genügend groß ist. Aus diesem Grunde hat sich der Bau von Spezialwagen, wie der Hohlglaswagen, erforderlich gemacht. 
Der Görlitzer Hohlglaswagen ist zweiachsig bei größtmöglichster Länge. gebaut. Er besitzt durch das stark gewölbte Dach einen so großen Laderaum, daß das Ladegewicht von 15000 kg bei einer Bodenfläche von 28,4 qm bei Hohlglasbeförderung voll ausgenützt werden kann.
Für das Durchfahren von Gleiskrümmungen mit kleinem Halbmesser ist der verhältnismäßig lange Wagen mit Lenkachsen ausgerüstet.
Das Dachgerippe ist der starken Wölbung wegen aus Eisen hergestellt. Im übrigen entspricht die Bauart den Musterzeichnungen für bedeckte Güterwagen der Königlich preußischen Staatseisenbahnen.
Zur Verladung der Güter befinden sich in der Mitte jeder Seitenwand Schiebetüröffnungen.
In jeder Seitenwand sind mit Klappen verschließbare, zum Lüften bzw. zum Verladen langer Gegenstände dienende Öffnungen.

IV.  Fischwagen.
Zur Vermeidung der Gefahren, welchen lebende Fische bei Beförderung in Fässern oder Kübeln durch Erschütterung, Mangel an Luft oder durch zu hohe Temperaturen ausgesetzt sind, sind auf Eisenbahnlinien, wo regelmäßig Fischsendungen vorkommen, Spezialwagen für, die Beförderung lebender Fische eingestellt.
Der Görlitzer Fischwagen ist dreiachsig, mit Lenkachsen und nach Art der bedeckten Güterwagen mit hochgewölbtem Dach gebaut und zur Einstellung in Personenzüge eingerichtet. Der Wagen besitzt einen oder zwei Fischräume und einen Maschinenraum.
Der Fischraum enthält einen aus verzinktem Eisenblech hergestellten, durch lose einsetzbare Querwände geteilten Wasserbehälter. Durch die Querwände werden größere Schwankungen des Wassers vermieden. Der Raum für Fische ist vom Maschinenraum aus zugänglich. Durch das hochgewölbte Dach und die daran angebrachte Laufstange wird ein Begehen der Fischbehälter auf Laufbrettern ermöglicht. In den Wagenwänden sind über dem Wasserbehälter Klappen oder Türen zum Ein- und Ausladen der Fische vorgesehen.
Der Maschinenraum ist unmittelbar von außen von einer Plattform zugänglich und enthält außer einem Schlaflager für den Begleiter einen Explosionsmotor von etwa 6 Pferdestärken zum Antrieb einer Dynamomaschine für Lichterzeugung, einer Pumpe zur Zirkulation und Erneuerung des Wassers und eines Luftkompressors. Mittels des Luftkompressors wird Frischluft dem Wasser der Behälter zugeführt, damit die Fische den zum Leben nötigen Sauerstoff erhalten.

V.  Rollböcke für Schmalspur.
Schmalspurige Rollböcke sind Eisenbahnfahrzeuge für den Übergang normalspuriger Fahrzeuge auf Schmalspurgleise.
Der Rollbock besteht aus einem kleinen zweiachsigen oder dreiachsigen Drehgestell mit drehbarem Tragschemel. Je ein solcher ist zur Aufnahme eines Radsatzes der normalspurigen Wagen bestimmt. Die zweiachsigen Rollböcke gestatten das Durchfahren von Krümmungen bis zu 10 m Radius. Der 1'ragschemel hat an seinen Enden Auflager, die entsprechend der Rundung des normalspurigen Rades ausgearbeitet sind.  Die Überladung der normalspurigen Wagen geschieht wie folgt: Die Rollböcke stehen in einer Überladegrube auf Schmalspurgleis. Am oberen Rande der Grube befindet sich normalspuriges Gleis, das am Ende ein Gefälle 1 : 20 hat. Auf das normalspurige Gleis werden die zu befördernden Wagen aufgeschoben. Die Rollböcke werden unter die Wagen gebracht, und durch Festhaltegabeln mit den Achsen verbunden. Alsdann werden die Rollböcke aus der Grube gezogen, wobei die normalspurigen Wagen mit Hilfe der Festhaltegabeln mitgenommen werden. Infolge des Gleisgefälles setzen sich die Hauptspurwagen auf die Auflager des Tragschemels, werden dabei vom normalspurigen Gleise abgehoben und so forttransportiert. An den Schemeln sind Vorrichtungen vorhanden, die ein Herabgleiten des Wagens von den Rollböcken verhindern.
Die so verladenen normalspurigen Wagen können in schmalspurigen Zügen eingestellt werden. Es eignet sich der Rollbockbetrieb für Klein- und Industriebahnen, die infolge schwieriger Geländeverhältnisse z.B. in Ortschaften mit scharfen Straßenkrümmungen keine Normalspurgleise zulassen. Der Rollbockbetrieb ist deshalb seit Jahren bei Schmalspurbahnen von 1000 bzw. 750 mm Spur eingeführt.
Der Görlitzer Rollbock hat eine besonders starke Konstruktion. Das Gestell besteht im wesentlichen aus starkem Walzformeisen.
Der Tragschemel ist aus geschmiedetem Flußstahl hergestellt. Seine Enden tragen die Auflager für die Spurkränze. An dem Tragschemel sind auch die Gelenke für die umklappbaren Festhaltegabeln der Achswelle des normalspurigen Wagens befestigt. Die Entfernung von Schienenoberkante bis zur Auflagerung am Tragschemel kommt bei dem Görlitzer Rollbock mit 140 bis 400 mm zur Ausführung.
Die Entfernung von 140 mm kommt für Rollböcke von 750 mm Spur in Frage, wenn bei dem aufgeladenen Wagen eine große Standfestigkeit gegen Winddruck erforderlich ist.
Der Görlitzer Rollbock unterscheidet sich voll anderen besonders durch die Sicherung der Festhaltegabeln.. Es entfällt durch Verlegung der Drehpunkte dieser Gabeln an die beiden Endpunkte des Tragschemels, sowie durch Wahl einer kräftigen und zuverlässigen Schraubenbefestigung die Notwendigkeit einer besonderen und unmittelbaren Befestigung der Räder des zu transportierenden  Wagens  am Tragschemel.  Die Befestigung der Gabeln an der Achswelle in verschiedenen Schrägstellungen ermöglicht, daß vorhandene Bremsteile nicht hinderlich sind. Das Aufladen oder Abladen von Normalspurwagen auf Görlitzer Rollböcke nimmt etwa 2 Minuten in Anspruch.

VI.  Rollböcke für Normalspur.
Normalspurige Rollböcke dienen zum Transport normalspuriger Fahrzeuge auf normalspurigen Gleisen mit sehr kleinen Krümmungen. Die Konstruktion des Görlitzer normalspurigen Rollbockes und die Grube zum Aufladen der Hauptbahnwagen ist im allgemeinen wie bei den schmalspurigen Rollböcken. Die oberen Fahrschienen der Grube haben eine besondere  Form und sind in der Weise ausgebildet, daß Rollbockräder unter diesen Schienen durchlaufen können. Die Entfernung der Auflagerung am Tragschemel beträgt von Schienenoberkante 500 mm. Da der Rollbock Normalspur hat, besitzt bei dieser Auflagerhöhe der aufgeladene Wagen noch eine genügende Standfestigkeit.
Der Betrieb mit normalspurigen Rollböcken eignet sich besonders für normalspurige Industrie- und Straßenbahnen, bei denen Anschlußgleise mit Krümmungen bis zu 15 m in Frage kommen.
 
 
Quelle: Das deutsche Eisenbahnwesen der Gegenwart - Band 2   -  Verlag von Reimar Hobbing in Berlin 1911 -  Seite  217 - 222


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